Das Recht im Mittelalter
Serie zur Stadtgeschichte, Teil 22: Der Bestand der hallischen Schöffenbücher ist einmalig in Deutschland. Was darin steht und warum sie sogar in Japan gelesen werden.
Von Walter Zöller
Halle/MZ. Pauwel Hedirsleibe möchte seinen Besitz für die Zeit nach seinem Tod sortieren. Das Haus in der Rodewelschen Straße soll an Herrn Lucas Kunpan übergehen. So steht es in einem „offenen und besiegelten Brief“. Oder: Lucie ist die Tochter der Brakstedin und führt Klage über ihre Mutter. Ilsbeth Brakstedin will das Landgut, das ihr gehört, nur ihren Söhnen vermachen. Lucie sieht sich um ihr Erbe gebracht.
Das sind zwei Vorgänge, die auch aus der heutigen Zeit stammen könnten. Angelegenheiten, die von einem Notar bearbeitet oder im Streitfall von einem Richter entschieden werden. Doch die Namen der handelnden Personen wie Pauwel Hedirsleibe oder Ilsbeth Brakstedin weisen den Weg ins Mittelalter. Genauer zum Schöffengericht auf dem Berg, das aller 14 Tage solche alltäglichen Rechtsangelegenheiten verhandelte. Dokumentiert wurden sie in hallischen Schöffenbüchern. Diese liegen lückenlos von 1266 bis 1806 vor, als das Schöffengericht im Zuge des Code Napoleon aufgelöst wurde. „Dieser Bestand ist wohl einmalig in Deutschland“, sagt Andrea Seidel vom Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle.
Recht im Tal und auf dem Berg
Die Schöffenbücher sind eine Fundgrube für Historiker, Juristen und Sprachwissenschaftler. Sie geben Auskunft über die Entwicklung von Rechtsvorschriften, über soziale Verhältnisse und wie Sprache sich veränderte. Die Germanistin Andrea Seidel hat die Aufzeichnungen ebenso untersucht wie der Rechtshistoriker Heiner Lück - beide Mitglieder des „Vereins für hallische Stadtgeschichte“. Selbst in Japan sind die historischen Quellen aus Halle für die Forschung interessant. Ein Professor von der Universität Kyoto hat unter anderem drei Schöffenbücher aus dem 15. und 16. Jahrhundert editiert.
Doch der Reihe nach. In Halle gab es zwei Schöffengerichte. Im Tal, dort wo die Sole gefördert wurde, galt das „Talrecht“. In der sogenannten Bergstadt, also auf einer kleinen Anhöhe, das „Bergrecht“. Schöffengerichte hatten im Mittelalter eine fest umrissene Aufgabe, dort ging es nicht um Kapitalverbrechen wie Mord und Diebstahl. „Der Schöffenstuhl, ein Kollegium angesehener und rechtskundiger Bürger, war für Angelegenheiten zuständig, die heute vor und mit einem Notar erledigt beziehungsweise im Grundbuch eingetragen werden“, erläutert Rechtswissenschaftler Lück. Es sei zumeist um die Übertragung von Grundstücken und Nutzungsrechten wie Hausverkäufe, Verschreibungen von Vermögensteilen an die Witwe beim Tod des Ehemanns, aber auch um Erbsachen gegangen. „Das Schlüsselwort aus der modernen Rechtssprache ist ,freiwillige Gerichtsbarkeit.“
Vor den Schöffen trugen die Bürger ihre Rechtsverfügungen vor, die sodann in das Schöffenbuch eingetragen und damit rechtswirksam wurden. „Mich interessieren das Schöffengericht auf dem Berg und die Schöffenbücher, die dessen Arbeit dokumentieren“, sagt Andrea Seidel. Ursprünglich habe das Gericht unter freiem Himmel auf dem Markt getagt. Ab dem 15. Jahrhundert habe es dann das Schöffenhaus gegeben, das ebenfalls auf dem Marktplatz stand. Insgesamt handelt es sich nach Angaben der Wissenschaftlerin um 166 Schöffenbücher, die die Arbeit des Schöffengerichts der Bergstadt dokumentieren. „Die ersten sieben sind im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle, die anderen im Staatsarchiv in Magdeburg.“
Die Germanistin forscht unter anderem zur höfischen Literatur des Mittelalters, zur Reformationsliteratur, zu Stadtsprachen - und zu den hallische Schöffenbüchern. Es sei eine Mammutaufgabe, diese Quellen zu erschließen, sagt die Wissenschaftlerin. Sie habe mit Hilfe der Schöffenbücher unter anderem den Übergang von der niederdeutschen zur hochdeutschen Sprache in Halle analysiert. „Es ist spannend, zu sehen, wie Sprache und Inhalt der mündlichen Gerichtsverhandlung verschriftlicht wurden. So dienten Redewendungen häufig zur Veranschaulichung des Sachverhaltes, zum Beispiel bedeutete los und ledig befreit von Schulden.“
In einer Publikation hat Andrea Seidel zusammen mit Studierenden ausgewählte Gerichtsakten aus der Zeit vom 13. bis 15. Jahrhundert untersucht. In einem Eintrag im Schöffenbuch werden die Besitzverhältnisse von Siedepfannen und Brunnen geklärt. In einem anderen geht es um Hermann Etikmegeres, auf dessen Güter eigentlich eine Zinsforderung des Klosters Bürgel lastete. Die Ordensbrüder verzichteten auf die Einnahmen - und hinterlegten das schriftlich.
„Interessant ist auch, wie sich Familiennamen herausgebildet haben und wie aus der Ein- die Zweinamigkeit entstand“, erläutert Seidel. Die Einnamigkeit sei zunächst üblich gewesen. In ländlichen Regionen habe das zur Identifizierung ausgereicht. „In Städten wurde es mit Beginn des 13. Jahrhunderts schwieriger, Namen wie Friedrich oder Heinrich nur einer Person zuzuordnen.“ Als Beinamen hätten sich der Beruf, der Wohn- oder Herkunftsort, besondere körperliche Merkmale oder auch der Name des Vaters entwickelt. „Friedrich der Rote hatte möglicherweise rote Haare, Heinrich von Aschersleben stammte aus Aschersleben und Hansen war der Sohn von Hans.“
Von Hanse nach Sachsen
Dass sich in Halle das Niederdeutsche zum Hochdeutschen entwickelte, war nach Angaben der Germanistin ein Prozess, der schon im 14. Jahrhundert einsetzte. Dabei habe die Handelssprache eine große Rolle gespielt. „Nach dem Rückzug aus der Hanse orientierte sich Halle unter anderem verstärkt an der Leipziger Messe, dort wurde Obersächsisch gesprochen.“
Die hallischen Schöffenbücher haben auch Eingang gefunden in die Wissenschaftsliteratur in Fernost. Dan Sato, japanischer Professor für Europäische Rechtsgeschichte, hat sich während seiner Forschungsaufenthalte in Halle mit dem mittelalterlichen Recht beschäftigt. Dass er dabei auch drei hallische Schöffenbücher aus dem 15. und 16. Jahrhundert bearbeitete, hat einen guten Grund. Die neuzeitliche Gesetzgebung in Japan habe bewusst an die deutschen Gesetzbücher des späten 19. Jahrhunderts angeknüpft, erläutert Rechtshistoriker Lück. So seien die „Dogmatik und die Regelungssystematik“ sowohl des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1896 als auch des deutschen Strafgesetzbuchs von 1871 weitgehend übernommen worden. „Daraus resultiert in Japan vornehmlich das aktuelle wissenschaftliche und rechtspraktische Interesse an der deutschen Rechtsgeschichte und ihren Quellen.“ Ein intensiver Blick in die hallischen Schöffenbücher lag also nahe.
Nächste Folge: Als die Hallenser
das Fahrradfahren lernten.